Liebe geht durch den Magen

Abenteuer 1

Von Lukas Wenger, 1994

«Verdammt, wo bist Du mit dem Salz hin?» Die Stimme tönt verärgert, so als ob sie schon etliche Male vorher nach dem Salzstreuer hätte fragen müssen, so als wäre sie diese Unordnung – naja, sagen wir, kleine Liederlichkeiten – bereits gewohnt. «Im Küchenschrank», tönt die Antwort aus dem kleinen, mit Büchern und einem überstellten Schreibtisch vollgestopften Arbeitszimmer. Doch da ist es nicht.

«Da ist es nicht!» Und sie habe es bestimmt nicht als letzte benutzt, denn dann wäre es ja eben im Küchenschrank, an jener Stelle, die ursprünglich untereinander ausgehandelt und seither, seit sie als junges Paar vor vier Monaten begannen, die Wohnung zu teilen, wiederholt – nämlich nach den meisten solcher Situationen – bekräftigt worden war.

«Für alles muss man selber schauen.» Steht auf, stapft in die enge Eineinhalb-Personen-Küche, nicht ohne sich besonders theatralische Mühe zu geben, auch wirklich gehässig zu wirken, öffnet wie zur Kontrolle die Schranktüre, «es könnte ja sein» – was nicht der einzige Spruch ist, den er für solche Situationen auf Lager hat. Sein Lieblingssatz lautet «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.»

Und auch die restlichen spärlichen Möglichkeiten, den Salzvorrat des jungen Haushalts vorübergehend in der Küche zu deponieren, werden erst inspiziert, nur um dann schlicht festzustellen, dass er sich nicht in der Küche befinde. Soweit war sie auch schon. «Du warst wieder einmal eine grosse Hilfe», entfährt es ihr.

Pantoffelheld, Alptraum, zerplatzte Seifenblase und ähnliche Bilder – selbstverständlich sind hier nur die harmloseren erwähnt –, vermischt mit Ärger, Ungeduld, Groll, steigen in ihr hoch und sprudeln durch ihren Kopf, dieweil das Wasser im Topf zu kochen beginnt: Sollen die Spaghetti nicht fad schmecken, muss die kostbare Würze bald gefunden werden – oder es würde Tee geben statt der Teigwaren, denn der kommt ohne Salz aus, geht es ihr durch den Kopf, mit einem kurzen innerlichen Schmunzeln.

Inzwischen ist die Essnische bereits untersucht. «Dort muss die Wahrscheinlichkeit am grössten sein», meint er, ausgerechnet, der sonst von Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich viel hält – doch «am grössten» ist sie nicht. Während er sich durchs Gewühl im Schlafzimmer vorarbeitet, öffnet sie den Spiegelschrank im Badezimmer, öffnet die Kommodentüre, zieht die Schublade darüber hinaus: Da steht er, der kostbare, einzige Salzstreuer im Hause.

«Wieso hast du den ausgerechnet hierhin getan, Schatz?» Und er schaut verdutzt und zweifelnd zugleich in den kleinen Raum. Alles Grübeln nützt nichts, «ich weiss es nicht.» Seinem etwas linkischen Versuch einer Umarmung, wohl als Entschuldigung gedacht, weicht sie gekonnt – es ist ja nicht das erste Mal – aus und entflieht zurück in die Küche: Es kocht.

Abenteuer 2

Von Lukas Wenger, 1995

«Essen!» Auf dem kleinen (insgeheim denkt man sogar: wackligen) Tisch stehen sich zwei Gläser, zwei Teller, zwei Gabeln und zwei Messer gegenüber, nicht eigentlich arrangiert, sondern eher etwas zufällig auf den Tisch geraten. Die Pfanne mit einer dampfenden Menge eines Eintopfgerichts – im Spektrum weniger nach «Grossmutter-Art» oder «à la maison» denn nach der Methode «Not macht erfinderisch» – wird eben hereingetragen und zwischen die beiden Gedecke gestellt. Der Koch selbst, in einer wichtigtuerischen Schürze mit der Aufschrift «Chef de cuisine» gekennzeichnet, nimmt Platz auf einem der Stühle und ruft nochmals «Essen!» ins benachbarte Studierzimmer.

Ein entnervtes «Ja!» schwappt ihm entgegen und verscheucht jene Stimmung in ihm, die sich gewöhnlich dann breit macht, wenn man für jemanden eine Überraschung bereitet hat, jene verschmitzte Vorfreude auf den Augenblick, in dem man einem Freund eine Freude bereiten wird. Buchdeckel schlagen zusammen, ein Stuhl rückt, und sie eilt herbei, nimmt Platz ihm gegenüber.

Sie verbannt zuerst mit der einen Hand die langen Strähnen aus dem Gesicht auf die Seite, was beinahe schon ein Ritual ist, dann beginnt sie mit Schöpfen, nimmt sich nicht begierig oder gespannt, sondern eher eilig ihren Anteil und reicht den Löffel weiter.

Seine Bewegungen sind gelassener, liebevoller, den ihren unähnlich. In ihnen steckt eine gewisse Verehrung für das Gekochte, das er sich schliesslich erarbeitet hat. Sogar eine Instant-Mahlzeit kann ausgezeichnet schmecken, wenn man sie mit Liebe zubereitet und ein wenig verfeinert, geht ihm durch den Kopf, und es wird ihm gewahr, wie wenig sich sein Gegenüber um diesen inneren Wert der Mahlzeit zu kümmern scheint.

«Wo ist das Salz?» Das Gewürzset steht auf dem Spültisch, und mit einer halben Körperdrehung reicht er ihr das Körbchen hin. Mit einem abwesenden Blick greift sie hinein, nimmt den Salzstreuer und ergänzt die Masse auf dem Teller mit reichlich mehr als einer kräftigen Prise. Ihre Gedanken stecken noch irgendwo zwischen diesen Buchdeckeln, sinniert er, enttäuscht darüber, dass sie seiner bescheidenen Kochkunst keine Chance gibt zu bestehen. Beide beginnen mit Essen.

«Igitt, das ist ja versalzen!», schreit sie auf. Mit einem fragenden Blick auf den vermeintlich schuldigen Koch stürzt sie das Glas mit Mineralwasser dem ersten Mundvoll Eintopf hinterher, schiebt den Teller so weit von sich, wie der kleine Tisch erlaubt. «Das ess' ich nicht», sagt sie bestimmt und verschränkt die Arme vor der Brust.