Glühwürmchen

Aus aktuellem Anlass geschrieben

Von Lukas Wenger, Dezember 1992

Nach einem Brandanschlag auf eine Asylbewerber-Unterkunft in Roggwil BE las ich in einem Zeitungsbericht über die abscheuliche Tat, bei der glücklicherweise niemand zu Schaden kam. Es war damals, 1992, allerdings eine «heisse» Zeit in der ganzen Gegend für Ausländer, Asylbewerber und Asylanten. In diesem Zusammenhang entstand die Geschichte mit dem Glühwürmchen.

Regungslos lag er da. Mühsam röchelnd und unregelmässig atmete er. Sein Kopf hing träumend nach hinten über das Kissen hinaus gebeugt, und die feisse Zunge vibrierte im Schnarchen: Trinker aus Frustration, aus Gewohnheit. Grosse, dicke Falten überzogen sein Gesicht, das wenige, schwarz-graue Haar wirrte ziellos und von einem unruhigen Schlaf zerzaust um seine Glatze auf der Kopfmitte.

Doch plötzlich schoss sein Oberkörper in die Höhe. Seine schwarz-braunen Augen stierten im Halbschlaf gegen das Fenster und traten dabei beinahe aus den Höhlen. Was war das da? Ein kleiner gelber Funken hüpfte auf dem Fenstersims, vollführte seltsame Kapriolen. Ein Glühwürmchen, dachte er und sank erleichtert in die Kissen zurück. Freilich ein ungewöhnlich grosses.

Sein Kopf drehte sich, und der Zeiger am Wecker streckte ihm neun Finger entgegen: Neun Uhr, dachte er erschrocken. Ich muss aufstehen, habe heute viel zu tun im Geschäft. Dann stutzte er. Was soll das mit den Fingern? Der Oberkörper richtete sich ein zweites Mal auf, er fixierte mit seinen Augen das kleine Tischchen neben dem zerwühlten Bett. Dort sass er, der Wecker, wie immer, wie gewöhnlich. Da, der kleinere der beiden Zeiger besass tatsächlich kleine Finger.

Da stimmt etwas nicht, was ist heute nur los? Er schaute genauer hin. Tatsächlich: eine kleine Hand, so schwarz wie der Rest des metallenen Zeigers, eine kleine Faust. Er blinzelte ungläubig, kniff die Augen zusammen und schaute ein weiteres Mal. Griff nach dem seltsamen Wecker, griff mit der Hand daneben und suchte Halt. Griff zu und konnte sich halten, zurückziehen, doch das Ding in seiner Hand kam mit. Da plötzlich: Ein stechender Schmerz schleuderte sein Kinn zurück ins Kissen, ein harter Schlag, ein wahrhafter Boxhieb.

Was soll das, fragte er sich, während er mit zittriger Hand die getroffene Stelle im Gesicht rieb. Gleichzeitig in den Augenwinkeln wieder das merkwürdige Glimmen von vorhin wahrnahm. Vorsichtig in Richtung seines Fensters spähte.

Doch er sah nichts mehr, ein milchiger grauer Nebel war plötzlich in seinem Zimmer, während der Wecker sich schwer auf seinen Brustkasten gesetzt hatte und ihn am Atmen hinderte. Er griff hin, um sich von der Last zu befreien, doch der Wecker war keiner: Seine Hand hielt etwas langes, dünnes aus Metall, nein aus gedrehtem, gedrechseltem Holz: Der Lampenständer! Hatte er ihn vorhin mitgerissen? Klar doch, das Halt-suchen und der Faustschlag, gab er sich die Antwort, doch wunderte er sich. Porco Dio, ein seltsamer Tag heute!

Seine Gedanken schwirrten einen Augenblick um die Besonderheiten, die Absonderlichkeiten, die er eben erlebt hatte, als ihm das Glühwürmchen wieder einfiel. Wo war es hin? Er starrte aufgehockt im Bett nach seinem Fenster, doch der Nebel verhüllte alles, und trotzdem war es taghell. Taghell?! Hatte er die Storen nicht geschlossen, die Vorhänge nicht gezogen? Nein, das Glühwürmchen musste es sein. Er wollte aufstehen, hingehen und nachsehen. Doch kaum auf den Beinen, rutschte der Läufer unter seinen Füssen weg, er fiel schwer mit dem Kopf an die Kante des Tischchens und sank bewusstlos zu Boden.

*

Als der Alte am nächsten Morgen blinzelnd die Augen aufschlug, staunte er, dass er am Boden lag. Dann versuchte er, sich zu rühren, und fragte sich, warum seine Glieder vor Kälte so steif waren. Beim mühsamen Aufstehen erkannte er neben sich seine Ständerlampe, die ebenfalls am Boden lag, die Glühbirne in Scherben, der Schirm zerbeult. Es stank fürchterlich.

Ein Schmerz am Hinterkopf liess ihn zusammenzucken, und er schaute gegen das Fenster. Vor Schreck blieb ihm der Mund offen: mitten in der Scheibe ein etwa kopfgrosses Loch, Scherben bei einem grossen, verkohlten Flecken auf dem Parkettboden vor dem Fenster, sowohl grüne wie durchsichtige Scherben: ein ehemaliger Flaschenhals, ein ehemaliges Fensterglas. Ein Molotow-Cocktail.

Daneben standen die Resten seiner Plastik-Spritzkanne, bis auf wenige Zentimeter eingeschmolzen, abgebrannt. Ein wenig Wasser war immer noch darin. Glück gehabt.