Mondnacht

Ein Aufsatz aus der Schulzeit (Gymnasium). Aufgabe: Schreiben sie eine Erzählung, die eine Beziehung oder einen wichtigen Aspekt/Ausschnitt aus einer Beziehung zwischen zwei Menschen (Freunde, Ehepartner, Liebesbeziehung, ...) zum Thema hat. Wählen Sie Titel und Inhalt Ihrer Geschichte selber.

Von Lukas Wenger, 1990

Er legte die Bettdecke zurück. Immer wenn sie zu Bett gingen, legte er die Decke zurück. Er war meistens eher zu Bett. Deshalb legte er ihr die Decke zurück, genauso wie er es aus Gewohnheit jetzt tat. Seine Hand aber liess die Decke nicht los, gehorchte nicht seinem Befehl zurückzukommen. Sie verharrte dort und zwang ihn zu Verweilen, zum Nachdenken. Warum hatte sie so lange? Sonst war sie doch längst auch im Bett! Er war beileibe nicht der schnellste mehr, aber so viel langsamer war sie nicht. Aufstehen? Nachsehen? Er hatte immer das Nachsehen gehabt. Irgendwie hatte er es geschafft, aus jeder vermeintlich glücklicheren Wendung Unglück und Frustration werden zu lassen. Im Beruf war er immer der Geprellte. Er war vergesslich gewesen, schon immer. Er war nicht dumm, sicher nicht. Sonst hätte er die Schule nicht so gut abgeschlossen. Schon so lange her... Altwerden ist nicht schwer, aber Altsein!

Die Beschwerden häuften sich. Es war gut, eine so aufopfernde, rüstige Frau zu haben. Er fühlte sich zwar nicht geliebt, nein, Liebe durfte er nie erfahren, auch nicht als Kind, aber wenigstens gehörte er irgendwo hin. Er hatte ein unverwechselbares Zuhause. Es bedeutete ihm viel, gab Rückhalt. Tröstete. Half, die Welt, die grausame Welt vergessen, seine Ausbeuter – ja, das waren sie, Ausbeuter! Dabei wussten sie ganz genau, dass er sich nicht wehren konnte. Zuhause aber, da war er sich sicher, bei seiner Frau. Wo steckte sie denn? Sollte er endlich doch nachsehen gehen?

Und als er pensioniert wurde, wie war das schon wieder? Er strengte sich vergeblich an. Sein erster Schultag fiel ihm ein. Komisch, die Pensionierung war erst wenige Jahre her, aber die Erinnerung liess ihn im Stich. Nur der erste Schultag. Sein Berufsleben wollte er vergessen. Es war eine unglückliche Zeit, ohne Zufriedenheit, ohne Glück und ohne Geld. Er war nie reich, hatte nie Geld. Zum Leben zuwenig, zum Sterben...

*

Seine Hand zuckte zurück. Er machte sich ganz klein auf seiner Seite des Ehebettes. «Stimmt ja gar nicht mehr! Von wegen Ehebett!», rief es höhnisch in seinem Kopf, immer wieder, gellend, mit Echo, und «Tot! Tot! Tot!», verzweifelt, einsam. Wie konnte er das nur vergessen?!

Seine Gedanken schwirrten. Er öffnete seine Augen, stach sich mit den Fingern in die Augäpfel. Ja, sie waren offen, aber es war nicht die Wirklichkeit, die er sah, bestimmt nicht. Auf der anderen Seite seines Bettes lag ein leuchtend helles, weisses Kreuz. Er konnte das kalte Licht nicht ertragen und hielt sich die Hände schützend vor die Augen. Seine Frau war tot! Und er hatte sich nicht daran erinnert: tot! Seine Hände wurden nass. «Schweiss», war sein erster Gedanke. Ich darf mich nicht aufregen, wegen dem Blutdruck, hat der Arzt gesagt. Aber das waren ja Tränen, die seine Hände netzten, Tränen! Er warf sich auf die andere Seite, umarmte ihr Kissen und weinte.

Am letzten Montag war sie nicht mehr aufgewacht. Sie waren alle so lieb zu ihm, es konnte nicht wirklich sein. Die Welt war schon immer nur böse gewesen, zu ihm. Man holte sie ab. Auf dem Grabfeld war er zusammengebrochen. Wie sollte er ohne sie weiterleben, wie? Er drehte den Kopf. Mit panischem Entsetzen sah er das Kreuz auf seinen Beinen. Er wurde bewusstlos.

*

Der alte Mann lag auf dem Rücken. Es waren sicher erst wenige Augenblicke vergangen. Seine Stirn war immer noch feucht. Seine Augen suchten das Fenster. Luft! Er brauchte Luft! Er stand auf. Schwankend ging er zum Fenster, öffnete die Flügel und die Läden. Der Mond schien, so hell, als wäre es Tag. Ein kalter trostloser Tag, wie der Montag. Er drehte sich um. Das Bett war sehr zerwühlt, wie stürmische See. Er machte einige Schritte darauf zu, stutzte und blieb stehen. Es fehlte etwas! Aber was? Er vollendete den Weg und sah seinen Händen zu, wie sie die Decke streckten und glätteten. Seine Augen folgten den Bewegungen, die unablässig weiterfuhren. Die Decke war längst in Ordnung, Mondlicht erleuchtete die eine Bettseite, aber die Hände hielten nicht inne, die Augen schauten zu. Immer die gleiche Bewegung, von innen nach aussen, vom Fussteil nach oben, sich kreuzend.

Nach einiger Zeit legte er sich wieder hin – ihre Seite liess er unberührt – und schloss die Augen. Kälte von draussen erfüllte den Raum, ein leiser Wind schloss die Läden. Sie versperrten dem Mondlicht den Zutritt. Nur zwei Strahlen erreichten den Schlafenden. Der eine Horizontal, der andere vertikal, sich auf seiner Brust überschneidend.