Rote Rose

Von Lukas Wenger, Juni 1997

Eine rote Rose vermittelt auf eine unerklärliche, mystische Weise eine neue Bekanntschaft. Die Geschichte beginnt auf dem Marktplatz der Stadt.

Sie wollte eigentlich nur, wie jeden Vormittag, auf dem Markt im Stadtzentrum Gemüse kaufen. Dazu kam, weil heute Freitag war, ein wenig Fisch zum Mittagessen – Fisch war in der Stadt im Landesinnern nur freitags frisch zu haben. Nach dem Einkauf schlenderte sie heimwärts durch die Marktstände. Sie mochte das Getümmel und Treiben, das Rufen und Feilschen auf dem Markt, es brachte täglich etwas Abwechslung ins monotone Leben der alleinstehenden Frau, und jeden Tag nach dem Einkaufen, bevor sie nach hause ging, nahm sie sich diese halbe Stunde, um ganz in sich versunken – und doch mitten in der Welt – spazierend in eine Art Meditation zu versinken.

Heute war es anders als sonst: Die Leute verhielten sich zwar wie auf jedem Markt, aber alles schien weiter weg von ihr als normal, spielte sich ab wie hinter einem hauchdünnen, durchsichtigen Vorhang. Indem sie durch die Menschenmassen spazierte und es rechts und links lamentierte, hatte sie den Eindruck, vor ihr trenne sich der Strom von Kauflustigen, als ob sie bestrebt seien, ihr Platz zu machen. Es war, als ob der durchsichtige Vorhang mit jedem ihrer Schritte vor ihr her wehte und die anderen Menschen in den Gassen und Plätzen von diesem nicht wirklichen Schleier beiseite geschoben würden und vor der in sich versunkenen Frau auswichen.

Es war kein bewusstes Erkennen darüber, wie dies geschah, es war eine unbestimmte Empfindung. Sie versank umso tiefer in ihrer Meditation, liess sich in den Menschenstrom hineinfliessen, liess sich umfliessen, ohne wirklich in Kontakt zu treten mit dem, was um sie herum geschah. Sie wusste, ohne sich zu fragen, warum sie es wusste, ja überhaupt wissen konnte: heute ist etwas anders als sonst.

Plötzlich stand, wie durch den Vorhang hindurch zu ihr vorgedrungen, eine kleine alte Frau vor ihr und drückte ihr eine Rose in die Hand. Wie selbstverständlich nahm sie die Rose, und die alte Frau war wieder aus den Gedanken verschwunden, so schnell wie sie erschienen war. Dies alles verwunderte sie nicht im mindesten; irgendwie passte alles so gut zur entrückten Stimmung in ihr, dass sie weiterspazierte, ohne sich zu fragen, was das seltsame Geschenk, so plötzlich erhalten, bedeuten mochte.

Im Weitergehen versank sie nur noch tiefer in dieses Gefühl voller Unbeschwertheit, Entspanntheit, und sie vergass vollends, wo sie war und was sie tat. Unwillkürlich hob sie ihre Hand mit der Rose, um den Blumenduft einzuatmen, holte mit einem tiefen Atemzug das Parfüm in sich hinein – und sah, wie in einer Art innerem Hologramm, ein Gesicht sich bilden, zuerst verschwommen, als Ahnung nur und wie aus den Schwaden des Rosendufts zusammengesetzt. Mit jedem Schritt, mit jedem neuen Atemzug gewann die Vision an Klarheit, aber auch an Schönheit, Vollkommenheit, die Züge wurden ablesbar, erkennbar, es bildeten sich Einzelheiten, bis ein Gesicht, ein Mann, ihr warm zulächelte, wie über ihr schwebend und so schön, dass sie ihn nie mehr vergessen wollte.

*

Zur selben Zeit stand ein junger Mann vor einem Blumenstand auf dem Marktplatz und betrachtete die Auswahl. Andere Personen waren vor ihm dagewesen und wurden deshalb auch vor ihm bedient – ein junges Mädchen, kaum über 16, und eine alte, kleine Frau teilten sich in diese Aufgabe. Ihm war es recht, denn er konnte sich nicht entscheiden, etwas zu kaufen oder weiterzugehen, und gesetzt der Fall, er würde etwas mitnehmen wollen, er wusste nicht was. Obwohl unentschlossen, hielt ihn ein unbestimmtes Gefühl zurück, und seine Augen streiften über die farbenfrohe Auslage des sommerlichen Blumenstands, ohne bei einzelnen Blumen oder Sträussen lange zu verweilen.

Als die Reihe an ihn kam, hatte er dies gar nicht bemerkt. Die alte Frau stand vor ihm. Es dünkte ihn, als ob sie ihm schon eine Weile ins Gesicht geschaut hätte, als er wie erwachend ihren Blick bemerkte. Mit einer Handbewegung wischte er sich die Verlegenheit aus dem Gesicht. Er war überrumpelt, und aus Verlegenheit entschloss er sich, etwas zu kaufen, irgend eine Blume, irgend einen Strauss, nur um dann möglichst schnell vom Blumenstand weg zu kommen. Ihm war ein wenig unheimlich zumute. Er gab sich ein gestresstes Gehabe, schaute auf die Armbanduhr und wollte gerade auf eine Vase mit eingestellten roten Rosen deuten, als die alte Verkäuferin ihn zum zweiten Mal ansprach: «Sie brauchen heute keine Rosen zu kaufen», sagte sie mit einer wohlklingenden, aber gebietenden Stimme. Er schaute sie überrascht und sprachlos an. Sie war plötzlich gar nicht mehr so klein und alt: Ihre gekrümmte Gestalt hatte sich gestreckt, und sie stand vor ihm Auge in Auge, während er doch gar nicht zu den Kleinen zählte. Eine Ausstrahlung von grosser Macht ging von ihr aus. Ihr Gesicht war straffer geworden und hatte die Falten verloren, die Augen leuchteten ihm entgegen. Der Mann wusste nicht, was er davon halten sollte: So etwas hatte er noch nie erlebt. Doch das unheimliche Gefühl von zuvor war einem anderen gewichen: Er fühlte Vertrauen zu dieser alten Frau, fühlte Geborgenheit – und konnte sich dies nicht erklären.

Seine Gedanken kreisten, und er wollte sich davonmachen, sich weigern, das einzugestehen, was vor seinen Augen passierte und was er empfand. Er blieb stehen, von diesem festen, warmen Blick und vom Charisma der Frau festgehalten. Sie trat näher zu ihm heran, nahm seine Hände auf und begann zu sprechen. Was sie sagte, hörte er zwar, aber ihn dünkte, dass er es nicht mit den Ohren wahrnahm, dass er es gar nicht erst zu hören brauchte: Sie sprach in seinem Kopf, und was ihre Lippen formten, war bereits in seinen Gedanken, bevor ein Laut aus ihrem Mund kommen konnte. Sie schaute ihm unverwandt in die Augen, und doch schien sie aus seinen Händen zu lesen.

Was in Wirklichkeit nur einen kurzen Augenblick dauerte, schien ihm sein ganzes bisheriges Leben auszumachen: Die Frau hatte ihm berichtet von seinen Anfängen bis jetzt und von seiner Zukunft, und dies in einer Zeit eines einzigen Satzes, eines einzigen Wortes. Er vernahm seine Vergangenheit und Zukunft, wie wenn sie die ganze Zeit neben ihm gestanden hätte und jeden seiner Schritte, sogar jeden seiner Gedanken miterlebt hätte. Sie gab ihm eine nie gekannte Zuversicht, ein fest in ihm selbst gegründetes Selbstvertrauen, das er schon so lange gesucht, aber nie gefunden hatte. Als sie ihm seine Hände zurückgab, starrte er auf seine Handflächen – und kam langsam zu sich. Seine Augen, vorher ins Leere gerichtet, begannen die Welt wieder wahrzunehmen: den Markt, die umstehenden Häuser, den Blumenstand, die alte kleine Frau – tatsächlich, sie war wie vorher: Ihre Augen schauten dumpf aus den Augenhöhlen hervor, wo vorher ein klares, mächtiges Leuchten war. Ihre gebietende Gestalt war wieder zusammengesunken und gebeugt, wo sie doch mächtig und gleich gross war wie er. Das Gesicht war so alt und runzelig wie einige Augenblicke zuvor.

Er schaute sie verwundert an, während er sich fragte, was da eben passiert war. Hatte er geträumt, eine Vision gehabt? Sie sprach ihn wieder an, und diesmal tönte ihre Stimme alt und hohl, sogar etwas schwächlich und gar nicht gebietend. «Sie brauchen heute keine Rosen zu kaufen. Sie finden Ihre Rose nicht an einem Blumenstand. Gehen sie jetzt am Rathaus vorbei.» Er blickte einen Augenblick zweifelnd ins Antlitz der alten Blumenverkäuferin.

Erst viel später sollte in ihm das Gefühl dieses grossen Vertrauens, dieser Zuversicht, das von ihr ausgegangen war, seine Wirkung zeigen. Er besann sich darauf, von diesem mysteriösen Blumenstand weg zu kommen. Er stammelte ein «Danke» hervor, drehte sich um und eilte davon, ohne zu überlegen wohin. Er musste seine Gedanken ordnen, musste versuchen, sich das Ganze zu erklären oder wenigstens zu deuten, musste ... –

Ein Krachen und ein Aufschrei der Menge versetzte ihn augenblicklich zurück in die Gegenwart. Er hielt in seinem eiligen Schritt inne und blickte auf: Genau vor ihm, am Rathaus, war ein Baugerüst eingestürzt. Er war der nächste der Passanten beim Rathaus, und in wenigen schnellen Schritten stand er neben dem eingestürzten Gerüst. Eine junge, ihm unbekannte Frau war von fallenden Teilen getroffen worden. Sie lag ohnmächtig auf dem Rücken, eine rote Rose mit beiden Händen an die Brust gedrückt. Wie schlafend lag sie da, ein vermeintlich friedliches Bild. Er beugte sich zu ihr hinunter, entfernte einiges Gebälk von ihr und begann zu untersuchen, ob sie noch lebe und ob sie verletzt sei. Da schlug sie die Augen auf, ihr Blick gewann an Klarheit, und sie erkannte sein Gesicht. Freude und Überraschung strahlte ihm entgegen, den sie vorhin in ihrer Vision gesehen. Mit zittriger Hand streckte sie ihm die Blume entgegen: «Hier, Deine Rose.»