Spaziergang

Ein lauer Adventsabend

Von Lukas Wenger, November 1998

Bei einem Spaziergang zu zweit am Abend durch die Stadt, gemütlich, Arm in Arm, entschweben die Gedanken in andere Sphären. Wo sind wir dann? Ist alles, was wir wahrnehmen, auch Realität?

Der laue Adventsabend eignete sich vorzüglich für einen Spaziergang in der Stadt, und so bummelten wir Arm in Arm durch die alten Strassen und Gassen. Wir waren schon für eine geraume Zeit unterwegs und sprachen über dies und jenes, betrachteten ein festlich beleuchtetes Schaufenster und schlenderten dann ziellos weiter. Wie wir nutzten zahlreiche andere Menschen die ungewöhnliche Milde des Dezembers, um frische Luft zu schnappen, und so blieben wir nicht alleine: Vor und hinter uns spazierten andere, sprachen über dies und jenes und betrachteten die festlich beleuchteten Schaufenster.

Unser Weg durch die Menschen und durch die Gassen hatte keine Absicht, keinen Plan. Mal zog uns ein Schaufenster mit Damenmode, mal mit edlen Schuhen an, dann wieder hielten wir vor einem Laden inne mit Geräten und Werkzeugen oder mit einer originelle Dekoration, ganz wie es uns beliebte. Allmählich wurde uns bewusst – und zwar uns beiden unabhängig voneinander –, dass vor uns ein Paar auch Arm in Arm spazierte, das schon seit längerer Zeit immer genau vor uns war, egal wohin wir uns wendeten. Die beiden waren in lange, dunkle Mäntel gehüllt, er trug dazu sogar einen dunklen, breitkrempigen Hut, was eigentlich schon lange ausser Mode ist.

«Wieso schaffen es die da vorn, immer vor uns zu bleiben?», fragte meine Begleiterin, ohne jedoch auf eine Antwort meinerseits zu beharren. Es war nur eine Feststellung. Ich hatte mir dieselbe Frage zwar auch schon gestellt, jedoch ebenfalls nicht lange an einer Antwort herum gedacht. Für mich war es Zufall, und somit hatte ich mich wieder anderen Gedanken hingegeben. Doch unmerklich kamen wir dem seltsamen Paar immer näher. Oder liessen die beiden uns immer näher aufschliessen? Jedenfalls standen wir plötzlich nebeneinander vor einem Schaufenster mit altem, anscheinend kostbarem Schmuck.

Für uns war dieser Halt ganz und gar nichts ungewöhnliches: Schon seit längerem gehört es bei uns beiden zu jedem Stadt-Spaziergang, dass wir uns die Schmuckauslagen der örtlichen Bijoutiers und Goldschmiede anschauen. Wie es uns also zur Gewohnheit geworden war, Schmuck zu betrachten und uns gegenseitig zu kommentieren, war es auch hier so, dass wir zuerst einmal beide die ausgestellten Stücke – Ringe, Kettchen, Broschen, Ohrschmuck – würdigten und uns leise darüber unterhielten, was uns besonders gut gefiel. Unsere Nachbarn waren da ganz anders: Stumm standen sie eng nebeneinander vor der Auslage, und statt wie wir mit den Fingern auf die besonders gut gelungenen Schmuckstücke zu zeigen, glitzerten bloss die beiden Augenpaare ins Schaufenster hinein. Dieser deutliche Unterschied wurde uns erst bewusst, als unsere Nachbarn plötzlich angespannter schienen: Die beiden Gestalten richteten sich auf, die vorher undeutlichen Gesichtszüge wurden straffer und schärfer (obwohl sie für uns im Ganzen immer noch unkenntlich blieben), und sie traten näher ans Schaufenster heran. Wir dagegen verstummten in unserem Gespräch und in den Gesten und lenkten unsere Aufmerksamkeit auf das nachbarliche Paar. Von einem der ausgestellten Schmuckstücke musste ein ganz besonderer Reiz ausgehen, der die beiden derart verändert hatte.

Wir versuchten, ihrem Blick und ihrer Haltung die nötigen Informationen zu entnehmen, um das Schmuckstück ihres eigenartigen Interesses im Schaufenster ebenfalls zu entdecken. Der Mann begann, seinen Arm zu heben, und die Richtung dieser Bewegung half uns, das Kleinod in der Auslage zu finden: ein Ring aus Gold, einer unter anderen Goldringen, aber dennoch auffallend dank eines einzigen, von kleinen Diamanten umrandeten grossen Rubins. Ein schönes Stück, dachte ich bei mir, jedoch auch wieder nicht das schönste im Schaufenster; eines der teureren, aber auch nicht das teuerste. Unser Blick kehrte zurück zum Mann neben uns, dessen Arm die Bewegung hin zum Schaufenster noch nicht abgebrochen hatte, ja gar nicht abzubrechen gewillt schien; gleich musste seine Hand das Glas berühren – doch das dicke Sicherheitsglas hielt ihm nichts entgegen, er langte hinein in die Auslage, durch das Schaufensterglas hindurch, als wäre da gar nichts! Behutsam nahm er den Ring mit Daumen und Zeigefinger auf, hob ihn langsam an und führte ihn näher ins Gesichtsfeld unserer Nachbarn, während wir gebannt und staunend, unfähig einen Wank zu tun, den unglaublichen Vorgang mitverfolgten, als wären wir in einem Traum, wo alles möglich ist. Die beiden schienen einander zuzunicken, worauf er den Ring einsteckte, den Arm wieder fester um seine Begleiterin legte und sie mit sich fort zog.

Wir starrten verwundert auf die Stelle, wo einmal der Rubin-Ring gelegen hatte. Meine Begleiterin streckte den Arm aus und zuckte schmerzhaft zusammen, als sie am Glas anstiess. Wir erwachten aus unserem Staunen und schauten um uns: Unsere Gasse war menschenleer. Mit schnellen Schritten standen wir an der nächstgelegenen Gassenkreuzung, aber auch hier war niemand zu sehen, schon gar nicht das seltsame Paar. Nachdenklich schlenderten wir zur Bijouterie zurück, um uns zu vergewissern, dass wir nicht geträumt hatten – eine Lücke dort, wo einmal ein Ring war.