Der Schlossberg im Mittelalter

Die erste Station im Jubiläumsbuch1 befindet sich auf dem Schlossberg (örtlich) und im Mittelalter (zeitlich). Wir platzen souzsagen mitten in einen Rechtsstreit mit dem Kloster Wettingen, der auf der Burg Grünenberg feierlich beigelegt wird.

Urkunde vom 19. August 1248

Urkunde vom 19. August 1248, ausgestellt auf der Burg Grünenberg. Die Freiherren von Grünenberg verzichten darin auf ein Gut in Uri, das ihr Dienstmann Ulrich Gringella ohne ihr Wissen dem Kloster Wettingen verkaufte. Dessen Abt bestand auf dem Kauf, und die Freiherren mussten schliesslich klein beigeben und sogar einem Abgeordneten aus Wettingen, dem Mönch Johann von Strassburg, den Verzicht in die Hand versprechen. Foto: Staatsarchiv Uri, Stefanie Arnold.

Schlossberg

Zeichnung des Schlosses Grünenberg

Schloss Grünenberg um 1400. Links Turm und Südpalas, daneben das Türmchen der Burgkapelle. Die Zeichnung stimmt gut mit den Befunden überein.

Station 1 (Kartenausschnitt)Ein ungewöhnlicher Zug formierte sich frühmorgens am 19. August 1248 beim Kloster St. Urban. Vorneweg ein Mann in geistlicher Kleidung, in einer weissen Robe aus Wolle. Anhand seiner Kleidung könnte man vermuten, dass er dem hiesigen Kloster St. Urban angehörte, doch das trifft nicht zu: Johann von Strassburg, so sein Name, war Mönch in der Zisterzienserabtei Maris stella von Wettingen, welche 1227 gegründet wurde.2 Schon einige Tage zuvor war er in die Schwesterabtei «Monasterium Beatae Mariae de sancto Urbano» nach St. Urban gekommen, um sein Kloster in einer Rechtssache zu vertreten.3 An diesem Tag war es also soweit, und in Begleitung von Subprior Kuno, Bruder Heinrich und einiger einheimischer Laienbrüder machte sich der mönchische Abgeordnete auf den Weg entlang der Rot in Richtung Melchnau.

Was war geschehen, dass vom fernen Wettingen her ein Angehöriger des Mönchskonvents, ein zisterziensischer Konventuale, im Jahre 1248 den Weg nach Melchnau auf sich nehmen musste? Urheber des Rechtshandels, der schon einige Jahre zuvor seinen Anfang genommen hatte, war Ulrich Gringella im fernen Uri, ein Dienstmann der Familie von Grünenberg. Ulrich hatte nämlich der noch jungen Abtei Wettingen ein Gut in Uri verkauft, ohne vorher mit dem Eigentümer, seinen Herren in Melchnau, Rücksprache zu nehmen. Die beiden Brüder Heinrich (II.) und Markwart (I.) von Grünenberg4 erhoben nun Einspruch gegen diesen Verkauf, von dem sie nichts gewusst hatten, und bestanden darauf, dass die Abtei Wettingen das Gut wieder an den Familienbesitz zurückzugeben habe. Doch das Kloster beharrte auf seinem Standpunkt, und die beiden Ritter gaben im Jahre 1248 schliesslich nach – wohl nicht zuletzt dem Frieden zuliebe mit dem Zisterzienser-Orden, mit dem sie durch das benachbarte Kloster St. Urban innig verbunden waren.

Der Weg der kleinen Gruppe von Mönchen, der ortskundige Subprior von St. Urban an der Spitze, bog von der Rot weg ab nach Chlyrot, dort, wo die Abtei St. Urban ihre Anfänge genommen hatte, und folgte nun in der Höhe dem «Melchtal». Schon von weitem erblickten die weissen Gestalten über die Hügel hinweg den Turm einer Burg, und nach der letzten Biegung war auf einem gänzlich kahlen Hügel noch ein zweiter Turm, weiter vorne zum Tale hin, zu erkennen. Die beiden Türme gehörten zu zwei Burgen: oben Langenstein, weiter vorne Grünenberg. Dorthin lenkte die Gruppe ihre Schritte. Nachdem die Mönche die Hütten von Melchnau im Tal hinter sich gelassen hatten, stieg der Weg steil an, hinauf zur heutigen «Festi». Dort oben standen ebenfalls einfache Hütten, die oberste an der kahlen Flanke des Hügels, etwas unterhalb zwischen den beiden Burgen.

Wappen der Grünenberg

Wappen der Freiherren von Grünenberg: in Silber ein grüner, schwebender Sechsberg mit goldenen Rändern. Foto: Staatsarchiv Luzern (KU 761).

Besonders die Lage von Langenstein entlockte den Mönchen um Johann von Strassburg beeindruckte Blicke nach oben: Ein tiefer künstlicher Einschnitt im Hügelzug bewirkte, dass der Turm der Burg, unmittelbar an der Kante zu diesem tiefen Graben, scheinbar noch viel höher gen Himmel ragte. Die Mönche folgten der Biegung des Weges entlang der Südseite von Langenstein; sie wollten nicht hierhin, sondern zur anderen Burg, zur «Grünenberg». Zwei Gräben trennten die Gruppe von der Burg, und sie mussten zwei schmale Stege überschreiten, um an die Aussenmauer von Grünenberg zu gelangen. Eine Rampe, angeschüttet vor den Mauern, führte auf der Südseite zum Burgtor, das offen stand.5

Die Mönche wurden erwartet; man hatte sie schon von weitem bemerkt. Die Burgknechte grüssten freundlich und führten die Gruppe in den Hof hinein, an hölzernen Bauten, dem Brunnen und der kleinen Burgkapelle vorbei zum südlichen Wohngebäude. Vom Hof aus hob sich der Blick der Besucher unwillkürlich hinauf zum Turm, sie bestaunten die mächtigen Buckelquader der trutzigen Turmmauer. Ritter Heinrich stand zusammen mit seinem jüngeren Bruder Markwart vor dem Eingang zum Wohngebäude, trat auf Johann von Strassburg zu und streckte dem Mönch versöhnlich beide Arme entgegen. Man hatte sich zwar schon vorher, wohl auf schriftlichem Wege, geeinigt, dass die Familie von Grünenberg auf das Gut in Uri verzichten werde, doch der Abt von Wettingen wollte sicher gehen: Bruder Johann von Strassburg wurde von ihm ausgeschickt, den Rittern in Melchnau die Zustimmung zum Verkauf persönlich und mit Handschlag versprechen zu lassen.

Rekonstruktionsskizze zur Burg Grünenberg

Die Burg Grünenberg in ihrem wahrscheinlichen Endzustand im 15. Jahrhundert. Rekonstruktion aus der Vogelschau mit Blick nach Süden. Skizze: Daniel Gutscher, Archäologischer Dienst des Kantons Bern.

Den beiden Rittern war wohl bewusst, worum es in diesem Rechtshändel ging. Ihr gutes Einvernehmen mit dem Orden der Zisterzienser und damit auch mit dem benachbarten Kloster St. Urban standen auf dem Spiel, und im mittelalterlichen Weltbild war mit diesem Einvernehmen letztlich auch Glück und Wohlergehen hier auf Erden wie nach dem Tode im Himmel verbunden. Unter diesen Umständen hatten die beiden Brüder eingelenkt und den Termin des 19. August ausgemacht, um die Delegation auf Schloss Grünenberg zu empfangen. Die beiden Ritter geleiteten die Mönche hinauf in die erste Etage, vorbei an der geschäftigen Küchenmannschaft im Ergeschoss, in den Rittersaal, dessen Mitte eine lange Tafel einnahm. Im Raum versammelt, warteten beide Familien auf das Eintreffen der Mönche. Neben Anna, der Ehefrau Heinrichs aus der Familie der Balm, stand E[lisabeth], die Gattin Markwarts. Von beiden Familien sind je vier Kinder belegt, von denen wenigstens Heinrich (III.) sowie Ulrich (II.) und Markwart (II.) – nebst den in der Urkunde für einmal summarisch erwähnten Töchtern – damals bereits gelebt haben dürften.

Es war inzwischen Mittag geworden, und die Burgherren boten den Gästen einen Platz in ihrer Mitte an der Tafel an. Speisen wurden gebracht: Der gewöhnliche Hirsbrei wurde heute, der Gäste wegen, mit zahlreichen Gemüsen wie Rüben, Sellerie und Fenchel ergänzt. Als Besonderheit lag Weissbrot aus Gerste auf der Tafel bereit; an Fleisch gab es ausnahmsweise Wild, das der jugendliche Nachwuchs aus den Adelsfamilien gestern im nahen Wald erlegt hatte.6 Als Adlige verfügten die beiden Familien von Grünenberg normalerweise nicht über köstlichere Speisen, als die bäuerlichen Untertanen im Dorf unten und in der ganzen Gegend. Im Burgenalltag bestand der Unterschied zwischen der Herrschaft und dem einfachen Volk vor allem im «Mehr» an Speisen.

Nachdem die Gesellschaft, bei munterem Geplauder, das Dessert aus Dörrfrüchten und Nüssen eingenommen hatte, kam der wichtige Augenblick näher: Der Verzicht Heinrichs und Markwarts auf das bereits verkaufte Gut in Uri sollte nochmals bekräftigt werden. Die anwesenden Personen verstummten und erhoben sich, und Johann von Strassburg nahm umringt von seinen Brüdern aus St. Urban Aufstellung vor den beiden Rittern. Die beiden Brüder Heinrich und Markwart legten je ihre rechte Hand in die entgegengestreckten Arme des Zisterziensers und versprachen ihm «in die Hand», den Verkauf an das Kloster Wettingen zu akzeptieren. Im Beisein aller wurde eine Urkunde darüber ausgefertigt und mit dem gemeinsamen Siegel der Freiherren von Grünenberg versehen (Abbildung ganz oben7). Die eindrückliche Szene dürfte für die Schlossbewohner gewiss unvergesslich geblieben sein.

Heinrich und Markwart von Grünenberg sollten die Begründer zweier grosser Familienzweige sein. Nach dem geschilderten Ereignis auf Grünenberg im Jahre 1248 erlebte die Burg zahlreiche Erweiterungen der Wohnbauten, um die vielen Personen der Familien unterbringen zu können (Abbildung oben), und wehrtechnische Verbesserungen, indem der Zugang zur Burg mit einem Zwinger an der nordöstlichen Ecke neu angelegt wurde. Mit einer engen Anbindung an das Haus Habsburg nach 1308 erhielten sie einflussreiche Ämter. Da die Familie einen Abt in Einsiedeln und eine Äbtissin in Säckingen stellte, stieg sie in den Reichsfürstenstand auf. Die Ritter von Grünenberg starben im Laufe des 15. Jahrhunderts aus, die Herrschaft Grünenberg wurde 1444 von Bern endgültig erobert und zu einer eigenen Landvogtei gemacht, später aber zu Aarwangen geschlagen. Der andere Teil aus dem Nachlass Grünenbergs, die Herrschaft Langenstein, kam 1480 durch Kauf an Bern. Die Schlösser Langenstein und Grünenberg hatten nun keine Verwendung mehr; Zerfall und Wiederverwendung der behauenen Steine setzten ein.




1 Text und Bild nach Wenger, Lukas/et al.: Melchnau auf dem Weg. 900 Jahre Melchnau, 2000. Merkur Druck, Langenthal, 2000. Up

2 Einen kurzen, umfassenden Überblick zum Zisterzienserkloster Wettingen und weitere Literaturangaben im Kunstführer von Hoegger 1997. Up

3 Die folgende Begebenheit wird zwar frei erzählt, doch die historischen Umstände vom 19. August 1248 entsprechen den überlieferten Tatsachen (Plüss 1900: 21ff, Jufer 1994: 133; dort aber fälschlich auf 1243 datiert). Zum Kloster St. Urban als ersten Überblick Meyer 1994. Up

4 Beide gehören der fünften bekannten Generation der Familie Grünenberg an und sind Söhne Ulrichs (I.), welcher vor 1224 gestorben war (Plüss 1900 und Jufer 1994). Eine Neubearbeitung aufgrund neu zugänglicher Quellen und die Einrichtung einer prosopographischen Datenbank stehen noch an. Die genealogische Datenbank ist bereits erreichbar unter http://lwl.homeip.net/gruenenberg. Up

5 Baugeschichte und Baufolge der Burg Grünenberg wurden erforscht während der Sanierunsgarbeiten 1992 bis 1998 durch den Archäologischen Dienst des Kantons Bern und die Stiftung Burgruine Grünenberg. Eine umfassende Publikation dazu steht noch aus (Gutscher 1996). Up

6 Erstaunlich selten finden sich Knochen von Wildtieren bei Ausgrabungen auf Burgen, in der Regel kaum mehr als 5 %. Die Knochen stammen von Schwein und Rind, daneben auch von Schaf und Ziege. Dazu und allgemein zum Thema Essen und Trinken in Burgen: Boxler 1991: 160ff. Up

7 Die Urkunde vom 19. August 1248 befindet sich im Staatsarchiv Uri, Altdorf (A-Urk/4), und wurde gedruckt bei Denier 1885: 12 sowie fehlerhaft bei Schmid 1790: Bd. II, 193. Der Wortlaut nach Denier und eine Übersetzung sind online unter http://lwl.homeip.net/gruenenberg?m=H;v=urkunde_1248-08-19. Up